Laut zahlreichen Experten müsste die Europäische Zentralbank die Zinsen weiter erhöhen. Dies würde zu einer sinkenden Nachfrage führen, so dass das Warenangebot und die Warennachfrage wieder ausgeglichen werden. Das Kapital würde nicht primär in Güter investiert, sondern z.T. auch wieder angelegt werden. Die Nachfrage nach Krediten (die ja meist mit Güterbeschaffungen zusammenhängen) würde nachlassen. Die Baubranche und auch andere Branchen würden mit Sicherheit einen Dämpfer erleiden, jedoch haben wir aktuell gerade im Handwerk einen nie dagewesenen Fachkräftemangel, so dass sich hier mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht umgehend eine große Arbeitslosigkeit breit machen würde. 

Wieso das nicht passiert? Hier kann man nur spekulieren. Eigentlich ist die zentrale Aufgabe der EZB, das Preisniveau (die Inflation) stabil zu halten. Doch „man“ (zahlreiche Ökonomen, ehemalige führende Köpfe der EZB) munkelt, dass es der EZB auch noch um andere Ziele geht. Und zwar um die Refinanzierungssituation im südeuropäischen Raum. Durch die gemeinsame Geldpolitik haben Staaten wie Italien, Spanien und phasenweise sogar Griechenland zum Teil ein niedrigeres Zinsniveau als die USA (!). Das bedeutet, dass sich Italien an den Finanzmärkten günstiger Geld leihen kann, als die Vereinigten Staaten von Amerika. Eine Erhöhung der Zinsen im Euroraum würde zu massiven Problemen für diese (bereits eh überschuldeten) Staaten führen (wir reden hier nicht von ein paar tausend Euro Zinsen, sondern von zweistelligen Milliardenbeträgen). 

Blicken wir noch ein bisschen tiefer in die „Glaskugel“ und betrachten einige mögliche Entwicklungen. Die Wahrscheinlichkeiten zu diesen Szenarien dürfen Sie sich selbst dazu denken:

•​Variante „Frieden & tolle Lieferketten“: Nächste Woche erklärt Vladimir Putin, dass er einen Fehler gemacht hat. Er entschuldigt sich bei allen Beteiligten, kündigt umfangreiche Reparationszahlungen an, gibt die Krim zurück und übergibt die Präsidentschaft an einen demokratisch, westlich orientierten Nachfolger. Deutschland gewinnt sehr schnell wieder Vertrauen in (lukrative) russische Gaslieferung. Man muss ja auch nicht immer nachtragend sein. Ganz viele Russen machen im Rahmen einer großen Länderverständigung einen Deutschkurs und füllen alle Fachkräfte-Lücken im Pflege-, Handwerks-, usw. Bereich. Die internationalen Lieferketten funktionieren wieder reibungslos. China etabliert ein neues Lieferkettengesetz, um vor allem Produktempfänger im Ausland vor negativen Folgen zu schützen. Die Frachtkosten sinken und gleichzeitig sind die Güterhorte voll. Plötzlich haben wir Angst vor Deflation. Experten beginnen zu warnen. Die EZB senkt zur Freude der Südeuropäer die Zinsen auf -5%, um die Produktnachfrage wieder auf das Niveau des übermäßigen Produktangebots zu bringen. 

•​Variante „Status Quo“: Es ist davon auszugehen, dass zumindest mittelfristig die Energiekosten hoch bleiben werden. Die z.T. hochtechnisierte (energieintensive) Deutsche Industrie hat mit ihrem Geschäftsmodell zu kämpfen („Produziere billig mit einem hohen Maß an Automation und günstiger Energie (aus Russland), und verkaufe es teuer ins Ausland weiter“). Preise müssen angehoben werden und Unternehmen gehen pleite (damit wird das Fachkräfteproblem ggf. etwas „abgemildert“). Bei allen anderen Unternehmen brauchen Mitarbeiter mehr Geld. Die EZB ziert sich weiter, das Zinsniveau anzuheben. Der Dollar wird weiter stärker, was Importe zusätzlich verteuert. China will noch immer kein Corona bekommen und die Liegezeiten an Häfen bleiben gleich (was sich ja irgendwann einpendeln sollte, aber natürlich dennoch höhere Frachtkosten verursacht). Die deutsche Politik versucht weiterhin mit neuer Verschuldung und Investitionsprogrammen „dagegen“ zu arbeiten und schüttet somit zusätzlich Öl ins Feuer. Selbstverstärkungseffekte sorgen für einen weiteren Anstieg der Inflation. Die Wahrscheinlichkeit (die Notwendigkeit ist irgendwann eindeutig) einer Umgestaltung des Euroraums, beispielsweise in Nord- und Südeuroraum, steigt. Dies gäbe den südlichen Ländern zumindest die Möglichkeit (wenn das Zinsniveau eh nicht zu halten ist), die eigene Währung abzuwerten und somit wieder einen Teil der Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen. Wir kaufen dann wieder gerne in Italien, Spanien oder Portugal ein, fahren dort in den Urlaub hin, weil es schön billig ist, …. Das wäre aber nur ein Teil eines tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs mit unvorhersehbarem Ausgang.

•​Variante „Gute Nacht“: Der Krieg weitet sich aus. Unwahrscheinlich? Fragen Sie einmal die Bewohner von Kiew, wie wahrscheinlich sie vor zwei Jahren einen russischen Angriffskrieg gehalten haben. Dies hätte wahrscheinlich weitreichende Konsequenzen auf allen Märkten. Zudem hat Chinas Regierung beschlossen, sich aktuellen geopolitischen Trends anzuschließen und Taiwan zu annektieren – auch um unter den aktuellen Unruhen den politischen Fokus auf den „Feind“ außerhalb zu lenken (eine jeher beliebte Strategie). Das bedeutet: Die gesamte IT-, Computer-, etc. Industrie bekommt immense Probleme (weltweit 65% – 90% der Halbleiter und Computerchips stammen aus Taiwan). Alles wird noch teurer (oder nicht mehr verfügbar). Und dann kommt noch etwas Unerwartetes dazu. Das Interessante an unerwarteten Ereignissen ist, dass wir sie eigentlich erwarten sollten (in welcher Form auch immer: Corona, Krieg, Lehmann-Pleite, …). Da ist unsere Lernkurve jedoch eine stetige Horizontale. Als Beispiel kommt es in unserem Szenario zu einer für Sie vielleicht überraschenden, aber deshalb nicht minder katastrophalen Entwicklung. Die Gummibäume werden krank. Ja, ganz richtig, die Gummibäume. Fast die gesamte Gummiproduktion (alle Reifen, auch die für Flugzeuge, nahezu alle Maschinen, Keilriemen etc., die gesamte Weltwirtschaft ist von Naturgummi abhängig – der bisher unersetzbar ist) hat sich zwischen 1910 und 1920 von Südamerika nach Asien verlagert, weil nahezu alle Gummibäume in Südamerika an einer Krankheit gestorben sind (in sehr kurzer Zeit). In unserem Szenario werden jetzt auch die Bäume in Asien krank. Die wirtschaftlichen (und damit ggf. auch gesellschaftlichen) Auswirkungen dieser „Pandemie“ wird Corona weit in den Schatten stellen. Damit wird alles nochmal SEHR SEHR viel teurer (Sie glauben das nicht: https://www.spektrum.de/news/die-kautschuk-apokalypse/1213467;  https://www.nationalgeographic.de/umwelt/kautschuk-die-gier-nach-gummi). Daneben erreichen wir im brasilianischen Regenwald kritische Klimakippunkte, was die Fleischproduktion in Europa auf Rekordpreise hochtreibt. Alles wird damit nochmal SEHR SEHR viel teurer (zumal Futtermittel kaum noch transportiert werden können, weil es ja keinen Gummi mehr gibt). Was dann passiert …? Bzgl. möglicher Szenarien fragen Sie Ihre Mutter oder Großmutter. 

Mit vorstehenden Punkten möchte ich weder Orakel spielen noch zur allgemeinen Verunsicherung beitragen. Was ich jedoch zeigen will, ist, dass wir auf einigen Pulverfässern sitzen (der Status Quo würde hier eigentlich schon ausreichen). Früher hat es auch schon zahlreiche Katastrophen gegeben, aber heute sind die Pulverfässer über globale Zündschnüre mehr denn je miteinander verbunden. Und die Wahrscheinlichkeiten liegen nicht zwangsläufig zu unseren Gunsten.

(Fortsetzung in Teil 3, unserem nächsten Newsletter)

Quellen:

ÖAW-Lecture Hans-Werner Sinn: Die neue Inflation

Die Kautschuk Apokalypse

Handelsblatt zum Thema Inflation

EZB